Architektur und Musik

4 Maschinenästhetik und Neoklassizismus

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden ästhetische Einstellungen, die an die von der künstlerischen Avantgarde proklamierte Synthese der Künste und die Ästhetik der Maschine anknüpfen, Vergleichs- und Bezugsmaßstäbe für die musikalische Komposition und den architektonischen Entwurf. Die Merkmale der fortschreitenden Industrialisierung, der Großstadt und des modernen Lebens prägen die bildende Kunst und Musik. Insbesondere im italienischen Futurismus wird die Vorbildfunktion der Maschine für die Klangkomposition, z. B. in den Manifesten und Werken von Francesco Balilla Pratella und Luigi Russolo, und für die neue Architektur, z. B. in den Entwürfen von Antonio Sant’Elia, besonders deutlich. So wie Russolo mit seinen Intonarumori (Lärm- oder Geräuschtöner) auf der Grundlage einer klanglichen Maschinenästhetik neue musikalische Formen generiert, habe das futuristische Haus einer gigantischen Maschine zu gleichen, die sich vom Rande eines lärmenden Abgrunds erhebt. Die Maschine als ein perfekt funktionierender Apparat und Ausdruck des modernen urbanen Lebens spielt sowohl im französischen Purismus der 1920er Jahre (Le Corbusier) – und daraus abgeleitet in der konstruktivistischen Phase der Bauhaus-Architektur (z. B. Walter Gropius, Hannes Meyer) oder dem Internationalen Stil – als auch in den frühen Formen der Maschinenmusik der 1910er und 1920er Jahre eine zentrale Rolle. Beispielhaft können hier Eric Saties Parade (1916–1917) sowie Edgard Varèses Amérique (1921, revidiert 1927) und Ionisation (1931) genannt werden. Le Corbusiers These, dass das Haus eine Maschine zum Wohnen ist[1] sowie seine frühen Wohnmaschinen, von der Villa La Roche (1925) bis zur Villa Savoye (1928–1931), oder die Konzeptionen anderer Architekten für ein mechanisches Haus, z. B. Georg Muches Versuchshaus am Horn (1923) in Weimar, haben ihre Entsprechungen in Kompositionen wie George Antheils Ballet mécanique (1924) oder in zahlreichen mechanischen Kompositionen, z. B. in Paul Hindemiths Komposition für Das Triadische Ballett (Oskar Schlemmer) für mechanische Orgel (1926) gefunden.

Die Wohnmaschinen des Neuen Bauens der 1920er Jahre repräsentieren einerseits Formen funktionalistischer Architektur, die ebenso wie die Formen der populären Gebrauchsmusik der 1920er Jahre im Wesentlichen unter zweckgerichteten Aspekten zu betrachten sind, und führen andererseits zu einer neuen typenbildenden Kanonisierung architektonischer Formen, die an tradierte standardisierte Konzepte der Architektur anknüpfen (z. B. platonische Körper, Neoklassizismus). Diese neoklassizistischen Tendenzen der modernen Architektur, z. B. im Werk von Le Corbusier, haben ihre Analogie in der neuen Klassizität der modernen Musik, z. B. in den Werken von Erik Satie, Ferruccio Busoni oder Igor Strawinsky. Saties Kompositionen, die in besonderer Weise konzeptionell auf den Raum Bezug nehmen, z. B. seine Musique d’ameublement, die in Form von Klangbändern oder -teppichen als Hintergrund zur Ausstattung eines Raumes gehören sollte, oder seine Klavierstücke Ogives (1889), die von gotischer Architektur und der Lektüre von Eugène Emmanuel Viollet-Le-Duc inspiriert waren, sollten – wie im Vorwort zu seiner Partitur Socrate (1916) zu lesen ist – weiß und rein wie die Antike sein. Die Bezugnahme auf die Antike sowie die Merkmale der weißen und reinen Musik Saties wie Ornamentlosigkeit, Einfachheit, Klarheit, Präzision und Ausgewogenheit lassen sich als ästhetische Exemplifikationen auch in der klassischen modernen Architektur und insbesondere in der puristischen Architektur Le Corbusiers erkennen, der Satie in der von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift L’Esprit Nouveau als zentrale Figur einer neuen Musikästhetik vorstellt.

1
2
3
4
5
6