Versprechungen einer Augenmusik

Thema dieses Kapitels ist der absolute Film, wie er sich in den 1920er-Jahren entwickelte. Es war eine Kunstform, die das neue Medium Film als mit Musik eng verwandt empfand. Strukturell betonte der absolute Film daher vorrangig die besondere Eigenart des Mediums. Im Gegensatz zur Darstellung der Realität standen pure Form, Farbe, Lichtprojektion, Rhythmus, der optische Prozess und die Materialbeschaffenheit des Films selbst im Vordergrund. Man träumte von einem Tanz der abstrakten Formen, und die entsprechenden Ergebnisse galten zu ihrer Zeit als populäre sensorische Sensationen. Den Begriff Augenmusik sollte man sich dabei so synästhetisch und kulinarisch vorstellen wie den noch heute geläufigen Begriff Augenschmaus: Beide sprechen von leiblich-sinnlichen Genüssen, die mehrere Sinnesorgane zugleich involvieren und den Körper als Ganzheit ansprechen. Den schwärmerischen Begriff Augenmusik verwendete erstmals der Filmkritiker Bernhard Diebold, nachdem er 1921 die Uraufführung von Walter Ruttmanns Film opus 1 gesehen hatte. Walter Ruttmann, der als Maler ausgebildet war, ging es in seinen abstrakten Filmen um eine Malerei mit Zeit, die nach musikalischen Prinzipien ausgerichtet sein sollte. Poeten und Maler spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Avantgardefilms der 1920er-Jahre. Die Gesetze der Kinematografie waren für sie am nächsten mit denen der Malerei und des Tanzes verwandt. Für Walter Ruttmann gehörte die Kinematografie daher auch zu den bildenden Künsten. Von einer Vermählung von Musik und Malerei (Bernhard Diebold) ersprach er sich die Verwirklichung der Idee des Gesamtkunstwerks. Die Musik-Analogie war in den 1920er-Jahren auch ein zentraler Fokus von Viking Eggeling, der gemeinsam mit Hans Richter an einer theoretischen Grundlage des Films als einer Kunst der Bewegung arbeitete. Eggeling schuf hierfür eine komplexe, polymorphe und kombinatorische Grafemsprache. Mittels strenger Regelhaftigkeit und stringenter Systematik sollte ein neuer Generalbass der Malerei Ausdruck finden. Man hoffte eine universelle Sprache zu schaffen, an die politische Utopien des grenzenlosen Verstehens geknüpft waren. Eine gänzlich neue Zugangsweise entstand mit der Entwicklung des Tonfilms bzw. der Tonspur um 1930. Ingenieure und Filmkünstler wie Rudolf Pfenninger, Oskar Fischinger und Norman McLaren schufen damals Töne aus dem Nichts, indem sie Formen auf die Tonspur zeichneten, die gleichzeitig visuell und akustisch wahrgenommen werden konnten. Berühmt für seine gemalten Filme ist auch Len Lye, der mit A Colour Box (1935) einen vibrierenden Film kreierte, der zu populärer kubanischer Tanzmusik synchronisiert war und von dem britischen General Post Office als Werbefilm eingesetzt wurde. Ebenso im Zusammenhang mit der Populärkultur stehen die Seeing Sound-Filme von Mary Ellen Bute, die Malerei und Bühnenbeleuchtung studiert hatte und mit ihren vielseitigen filmtechnischen Experimenten ungewöhnliche und überraschende Animationsfilme entwickelte. Im Gegensatz zu den theoretisch aufgeladenen Werken von Richter und Eggeling wollte sie visualisieren, was sich im Geiste abspielt, wenn man Musik hört. Ihr Erfolg zu Lebzeiten – sie hatte Auftritte vor einem Massenpublikum in New Yorks Radio City Music Hall – führte zwar dazu, dass sie in der fachlichen filmtheoretischen Rezeption teilweise marginalisiert wurde, aber genau dadurch vollbrachte sie das, was Eggeling und Richter theoretisch vorschwebte: eine massentaugliche universelle Sprache. Von diesen frühen experimentellen Herangehensweisen lassen sich Bezugslinien bis zur heutigen VJ-Kultur und zu aktuellen digitalen Produktionen im Zusammenhang mit elektronischer Musik ziehen.

Hans Richter, Präludium, 1919

Hans Richter, Rhythmus 21, 1921/24

Viking Eggeling, Symphonie Diagonal, 1921–23

Viking Eggeling und Hans Richter, Universelle Sprache, 1921

Walther Ruttmann, Lichtspiel opus 1, 1921

Ludwig Hirschfeld-Mack, Sonatine II (rot), 1923/24

Rudolf Pfenninger, Tönende Handschrift 1 – Das Wunder des gezeichneten Tons, 1932

Oskar Fischinger, Ornament Sound, 1932

Oskar Fischinger, Radio Dynamics, 1942

Mary Ellen Bute, Rhythm in Light, 1934

Len Lye, A Colour Box, 1935

Norman McLaren, Pen Point Percussion, 1951

Peter Kubelka, Arnulf Rainer, 1960

Norbert Pfaffenbichler & Lotte Schreiber, 36, 2001

LIA, Construction 76, 2008