Malerei und Musik

5 Abstraktion

Zwischen 1880 und 1915 kamen musikalische Titel in der Salonmalerei in Mode und musikalische Termini wurden bei Bildbeschreibungen geradezu inflationär eingesetzt, um diffuse Stimmungen zu umschreiben. Der avantgardistischen Kunst gegenüber positiv eingestellte Kritiker und Rezensenten hielten eingängige, einfache Gleichsetzungen von Musik und Malerei und die Verwendung musikalischer Termini bei der Beschreibung von Gemälden ebenfalls für ein probates Mittel, um dem Publikum die neuartige ungegenständliche Malerei näherzubringen. Da dem Malerei-Musik-Vergleich durch diese Entwicklung Beliebigkeit drohte, wehrten sich Künstler wie Wassily Kandinsky, Paul Klee und František Kupka gegen die stark vereinfachende Behauptung, sie wollten Musik malen. [12]Das künstlerische und theoretische Œuvre der Meister zeigt jedoch, dass sie den komplexen, reflektierten Austausch mit der Musik keineswegs ablehnten, wohl aber den oberflächlichen Topos, dessen sich viele Kunstschriftsteller bedienten.

Im anbrechenden 20. Jahrhundert, einer Phase, in der Künstler in ganz Europa und Amerika den Verzicht auf einen Bildgegenstand zu legitimieren versuchten, erhielten Reflexionen über die Beziehung von Musik und Malerei neue Impulse; unter anderem gewann Johann Sebastian Bachs Fugenkomposition an Aktualität.[13] Nachdem Čiurlionis bereits 1907 eine Fuge als Kompositionsmodell in einem Gemälde umgesetzt hatte, das noch an landschaftliche Motive gebunden war, beriefen sich ab 1912 neben vielen anderen Braque und Kupka in Bildtiteln auf Bach und die Fuge. Sie bot als Paradigma absoluter musikalischer Logik ein Vergleichsmodell für die Lösung vom Gegenstand und die Hinwendung zur Abstraktion. Die Musik Bachs, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Renaissance erlebte, galt als objektiv, gesetzmäßig gebaut, zutiefst poetisch und höchst modern. [14]

Für einzelne Mitglieder der Künstlervereinigung Der Blaue Reiter wurde auch Arnold Schönbergs Musik wichtig, denn sein Schritt in die Atonalität stellte als parallele Entwicklung in der Musik einen Bezugspunkt zur Abstraktion in der Malerei dar. Der Umgang mit den jeweils eigenen künstlerischen Mitteln konnte hier im Hinblick auf das Prinzip der inneren Notwendigkeit einem Vergleich unterzogen und von der visuellen Ornamentik abgegrenzt werden. Die Freiheit vom Gegenstandsbezug war bereits im 19. Jahrhundert der gemeinsame Nenner von Ornamentik und Musik geworden. Ebenso wie die ungegenständliche Malerei bezog die Ornamentik ihre ästhetische Wirkung aus nicht-figurativer Gestaltung und erfuhr eine Aufwertung. Andererseits blieb sie angewandte Kunst. Als dekoratives Moment stellte sie deshalb für Kandinsky kein genügendes Ziel in der Kunst[15] dar.

Vor allem aber schien Schönbergs Überwindung der traditionellen Funktionsharmonik gattungsübergreifende Probleme aufzuwerfen, deren Lösung im Sinne der Forderung Kandinskys, die Künste mögen nicht äußerlich, sondern prinzipiell voneinander lernen,[16] auch der Theorie der Malerei förderlich war. Insbesondere beschäftigte Kandinsky Schönbergs Definition von Dissonanzen als entfernter liegende Konsonanzen[17]. Diese Gleichrangigkeit der Ausdrucksmittel versuchte Kandinsky für die Malerei fruchtbar zu machen, weil er darin eine Möglichkeit sah, das Verhältnis von Farbe und Form zu erweitern. Eine Entsprechung zwischen beiden sei nicht mehr nötig, denn Harmonie sei antigeometrisch und antilogisch.[18] Das Interesse der Künstler an strukturellen Parallelen zwischen den Entwicklungen in Musik und Malerei beschränkte sich nicht auf die Theoriebildung: Kandinskys Impression III (Konzert) (1911) entstand als Reaktion auf ein Konzert mit Werken Schönbergs.

Zusammen mit theosophischen und okkulten Lehren gewannen auch Farbe-Ton-Analogien wieder an Aktualität. Sie schienen kosmischen Gesetzmäßigkeiten als höchster Instanz unterworfen, die der Künstler intuitiv spüre, noch bevor der Wissenschaft der – allerdings prophezeite – Nachweis solcher Korrespondenzen gelänge. Obwohl sich die Ansichten vieler Künstler zum Teil unabhängig voneinander entwickelten, weisen sie aufgrund gemeinsamer Interessen an Theosophie, Forschungen zur Synästhesie und symbolistischer Dichtung – zum Beispiel bei Kupka und Kandinsky – Ähnlichkeiten auf.

Kandinsky führte diese Überlegungen in einem Brief an Schönberg aus. Hahl-Koch, Kandinsky und Schönberg, 1980, S. 19.  
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